Geschichtsphilosophische Anmerkungen zu Dantons Tod Das Scheitern der Befreiung

Belletristik

Georg Büchners Dantons Tod ist das Revolutionsdrama schlechthin. Das gilt in ästhetischer wie in inhaltlicher Hinsicht gleichermassen, wobei hier nur letzterer Aspekt von Interesse ist.

Werke von Georg Büchner, ausgestellt im Georg Büchner Geburtshaus in Riedstadt.
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Werke von Georg Büchner, ausgestellt im Georg Büchner Geburtshaus in Riedstadt. Foto: Kurkai (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

22. März 2017
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Im Folgenden wird ein kurzer geschichtsphilosophischer Deutungsversuch des historisch-politischen Erfahrungskerns unternommen, dem Büchner in Dantons Tod ästhetischen Ausdruck verliehen hat. Dass dieses weltlich-materielle Moment von der metaphysischen Dimension, die das gesamte Drama in den Fragen nach Gott, Freiheit, Liebe, Tod und Nichts durchzieht, nicht zu trennen ist, sondern beide zusammen gehören, ist die abschliessende These dieser Skizze, die vor allem mit Seitenblick auf Herbert Marcuse ausformuliert wird.

Der politische Erfahrungskern

Büchner führt das Scheitern der Befreiung in der Französischen Revolution mit unübertroffener Klarheit vor Augen, indem er dessen führende Protagonisten in stilisierter Form auf die Bühne bringt. In den Jakobinern um Robespierre vereint sich das Prinzip eines erbarmungslosen Moralismus mit dem politischen Machtrealismus: »Die soziale Revolution ist noch nicht fertig, wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab. […]. Das Laster muss bestraft werden, die Tugend muss durch den Schrecken herrschen«[1], um »die Feinde der Freiheit«, die »Unterdrücker der Menschheit« der »Gnade« der »unbeugsamen Gerechtigkeit«[2] zu überführen, wie Robespierre in seinem grossen Dialogen mit Danton postuliert. St. Just als Henker der Revolution gibt diesen Gedanken dann jenes geschichtsphilosophische Fundament, welches im 20. Jahrhundert noch Karriere machen sollte: »Ich frage nun: Soll die moralische Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen, als die physische? […]. Soll überhaupt ein Ereignis, was die ganze Gestaltung der moralischen Natur, d.h. der Menschheit umändert, nicht durch Blut gehen dürfen? Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme ebenso, wie er in der physischen Vulkane oder Wasserfluten gebraucht. […]. Die Revolution ist wie die Töchter der Pelias; sie zerstückt die Menschheit um sie zu verjüngen.«[3]

Vergleicht man die Argumente der Jakobiner um Robespierre mit denen Lenins und anderer führender Bolschewiki, so wird ihre Verwandtschaft bisweilen bis in die Begrifflichkeiten hinein deutlich, auch wenn letztere nicht im Namen der Moral, sondern des Klassenkampfes zu Felde zogen. Isaak Steinberg hat als einer der führenden linken Sozialrevolutionäre in seinem wichtigen Buch Gewalt und Terror in der Revolution. Oktoberrevolution oder Bolschewismus (1931) Robespierre und Danton ein langes Kapitel gewidmet, ohne auf Dantons Tod, der ihm sicherlich bekannt war, Bezug zu nehmen.

Die linken Sozialrevolutionäre[4] brachten eine vergleichbare Kritik am bolschewistischen Terror vor wie Danton gegenüber Robespierre, auch wenn sie in polit-fraktioneller Analogie zur Französischen Revolution eher den Enragés[5], also der äussersten Linken verwandt waren. Steinberg schlägt sich eindeutig auf die Seite Dantons, auf die der »Inkonsequenz der Menschlichkeit«,[6] auch wenn er Robespierres Anliegen teilt, dass die Revolution auch die »Innenwelt des Menschen«[7] erfassen muss. Steinberg vertritt eine explizit moralphilosophische Begründung der sozialen Revolution, die er insbesondere gegenüber Marxismus und Bolschewismus in Stellung bringt. Nur ist die moralische Kultivierung der Seele nicht durch un- oder übermenschliche »Gesetze, Normen und Predigten« zu erreichen, die als heteronomer Zwang auf die Menschen wirken, sondern allein durch »Freiheit«, die »auf dem Wege der Überzeugung, des mannigfaltigen Schaffens und der freien Entscheidung«[8] zu den Menschen gelangt: »Robespierre ist kein Heiliger geworden. Danton war und blieb ein Mensch.[9]

«Demgegenüber ist die Quintessenz der jakobinischen Theorie und Praxis die Guillotine[10], die das krumm-hölzerne Menschenmaterial der Revolution nach den abstrakten Massen erbarmungsloser Gerechtigkeit zurechtstutzt. Das nihilistische Ressentiment, das Max Horkheimer in den bürgerlichen Befreiungsbewegungen seit der Reformation repressiv gegenüber dem individuellen und sinnlichen Glücksverlangen wüten sieht, ist auch der mächtige Feind von Büchners Dantonisten.

Elende Maloche – »Unser Leben ist der Mord durch Arbeit«[11] – hat das Volk »stumpf«, genussunfähig und somit rachsüchtig gemacht: »Es hasst den Geniessenden, wie ein Eunuch die Männer.«[12] Es ist die Gewalt, die für all die von der Klassengesellschaft erzwungenen Entbehrungen entschädigt und den eigenen Verzicht kompensiert: repressive Egalität, unter der alle gleichermassen leiden sollen, verborgenes Ressentiment, das sich nach aussen als höhere Tugend ausgibt.[13] Danton sieht, dass sich der Tugendterror diesen emotionalen und unbewussten Rohstoff aus Neid und Angst zunutze macht. Nicht nur die offene, rationale Seite des Terrors, die Gefahr der Konterrevolution, sondern auch seine verborgene, unaufgeklärte Seite, das Scheitern der Befreiung an den sich herausbildenden Strukturen kapitalistischer Vergesellschaftung, sind konstitutives Element seines selbstzerstörerischen Furors: »Wie lange sollen die Fussstapfen der Freiheit Gräber sein? Ihr wollt Brot und sie werfen euch Köpfe hin. Ihr durstet und sie machen euch das Blut von den Stufen der Guillotine lecken.«[14]

Dem jakobinischen Tugendterror und seinem Gewaltkompensat für die missglückte Befreiung hält der Deputierte Hérault etwas entgegen, was man als materialistischen Freiheitsinstinkt bezeichnen kann, dessen Spürsinn sich und anderen nichts vorzumachen bereit ist: »Wir alle sind Narren, es hat keiner das Recht einem andern seine eigentümliche Narrheit aufzudringen. Jeder muss in seiner Art geniessen können, jedoch so, dass keiner auf Unkosten eines andern geniessen […] darf.«[15] Büchner legt diesem anti-idealistischen, mit Kant kokettierenden Freiheitsgedanken eine elementar-materialistische Einsicht in das Menschlich-Allzumenschliche zugrunde: »Schlafen, verdauen, Kinder machen das treiben alle, die übrigen Dinge sind nur Variationen aus verschiedenen Tonarten über das nämliche Thema. […] Schneidet nur keine so tugendhafte […] und so heroische […] Grimassen, wir kennen uns ja einander, spart euch die Mühe.«[16]

Die Revolution hat demnach nicht eine moralische Neuerschaffung des Menschen zum Ziel, sondern seine materielle Befreiung, die es den befreiten Menschen dann auch erlaubt, wahrhaft human und moralisch zu sein, ohne sich selbst verleugnen zu müssen. Erst wenn das Fressen nicht mehr drängt, steht die Moral nicht mehr im lebensfeindlichen Widerspruch zur menschlichen Existenz, kann sie auf jene wahlweise zerstörerische oder verlogene Heroik verzichten, die sie so unmenschlich macht.

Zur politischen Erfahrung in Dantons Tod gehört freilich auch, dass ihr libertäres Votum nicht naiv ist, wie ein immer wiederkehrender Einwand lautet. Danton weist hochtrabende revolutionäre Hoffnungen seiner Kumpanen mit dem Hinweis zurück, dass diese auf Sand gebaut sind, wenn blind auf die Unterstützung der Massen gezählt wird. Danton spricht eine Erfahrung aus, die die Geschichte in einem Übermass verifiziert hat. »Danton: Wer soll denn all die schönen Dinge ins Werk setzen? Philippeau: Wir und die ehrlichen Leute. Danton: Das ›und‹ dazwischen ist ein langes Wort, es hält uns ein wenig weit auseinander, die Strecke ist lang, die Ehrlichkeit verliert an Atem, eh' wir zusammenkommen.«[17]

Georg Lukács hat in seiner Verteidigung Büchners gegenüber faschistischen Vereinnahmungsversuchen von Dantons Tod darauf insistiert, dass der revolutionäre Dichter weder ein Vertreter eines »germanischen« ontologischen Pessimismus, einer »ewigmenschlichen, überhistorischen, übergesellschaftlichen Verzweiflung« gewesen sei, noch einseitig Partei für Danton ergriffen habe. Mit einigem Recht weist Lukács darauf hin, dass Danton Robespierre zwar philosophisch überlegen sei, auf die drängenden politischen Herausforderungen aber keine Antwort habe und daher »einer politischen Auseinandersetzung« mit Robespierre aus dem Wege gehe. Wenn Lukács deshalb allerdings meint, Büchner eine Verwandtschaft zu St. Just attestieren zu können, ist dies nicht nur werkgeschichtlich und biographisch eine gewaltsame Konstruktion. Es verweist vielmehr auf den geschichtsphilosophischen Sand, auf dem Lukács seine Büchner-Interpretation gebaut hat. Der Philosoph meint, dass Dantons »epikureische[r] Materialismus«, der das sinnliche Wohlergehen des Einzelnen zum Ausgangs- und Endpunkt seiner Argumentation macht, den Herausforderungen der Revolution nicht gewachsen sei, weil dieser ein geschichtlich bereits überholtes Denken darstelle.

In Dantons bloss passiv erlittenem »Schicksal« spiegele sich die »Weltanschauungskrise« des bürgerlich-revolutionären Denkens, die mit dem historischen Materialismus überwunden worden sei. Dieser habe das Proletariat als diejenige Kraft entdeckt, welche die von Büchner tragisch erfahrenen und dichterisch zugespitzten »objektiven Widersprüche«[18] der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Revolutionen überwinde. Wie wir heute wissen, und wie man 1937 zumindest hätte erahnen können, war dies eine trügerische Hoffnung, deren politische Fundierung im Leninismus und der KP komplett gescheitert ist. Dass es kein Argument für die Linie Robespierre-Lenin-Lukács ist, wenn Danton keine befriedigende politische Antwort in petto hat, hat die Geschichte, um einmal die höchste Urteilsinstanz des Marxismus auf ihn selbst anzuwenden, hinlänglich bewiesen. Die von Büchner tragisch zugespitzten Aporien des Handelns bleiben vielmehr virulent.[19]

Ihre vermeintlich dialektische Lösung hat sich als Schein erwiesen. Dantons materialistische Skepsis ist im historischen Recht geblieben gegenüber einer Siegesgewissheit, die im Kern stets das war, was sie offiziell fürchtete wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser: Idealismus, der auf eine widersprüchliche Wirklichkeit, die sich der Theorie partout nicht fügen mochte, folgerichtig stets mit politischer Gewalt und ideologischem Befehl geantwortet hat.

Der soziale Erfahrungskern

Es sind offensichtlich Männer und das Scheitern ihrer Politik, die im Mittelpunkt von Büchners Tragödie stehen. Frauen tauchen nur am Rande als kokett-hübsches Beiwerk auf, als Geliebte. In der Realität waren freilich sie es, die, wie später auch in Russland, die revolutionären Prozesse grob-materialistisch anstiessen. Was los ist, wenn der Magen knurrt und nichts da ist, was die hungrigen Mäuler stopft, bekamen sie als Erste zu spüren. Der Motor der revolutionären Prozesse waren Subsistenzunruhen und Hungerrevolten, die ganz wesentlich vom weiblichen Engagement geprägt waren: Die »Warteschlangen der Frauen vor den Bäckerläden« waren der »eigentliche Ort der städtischen Emeuten«[20].

Der berühmteste Vertreter der Enragés, Jacques Roux, lobte die Frauen denn auch explizit als »die Hüter der Freiheit, de[n] Schrecken der neuen Tyrannen und die Stütze der Republik«[21]. Von der Bühne der grossen Politik blieben sie jedoch weitestgehend verbannt, was sich in Büchners dramatischer Darstellung widerspiegelt, die in diesem Punkte allerdings die geschichtliche Bedeutung der revolutionären Frauen unterschlägt. Die dort auftretenden Frauen verbleiben in demjenigen Objektstatus jahrtausendalter Subordination, den die Revolution doch überwinden wollte. Im Schicksal von Julie und Lucile, den Frauen von Danton und Camille Desmoulins, offenbart sich untergründig das Scheitern der Befreiung nicht weniger deutlich als im Pyrrhussieg des Jakobiner-Terrors über die Dantonisten. Die bürgerliche Revolution brachte keine Autonomie, sondern reproduzierte abermals die Herrschaft durch einen kapitalistischen Rationalisierungsschub.

Auch die bürgerliche Revolution schafft eine Ordnung, die insbesondere den weiblichen Subjekten Handlungsfreiheit bisweilen nur in Form der Selbstvernichtung zugesteht: Wahnsinn und Selbstmord. Der weibliche Eigensinn ist bei Büchner – das Resultat der Revolution, nicht aber dieselbe richtig charakterisierend – im strikten Sinne entpolitisiert: privatisiert und aus der Öffentlichkeit verbannt. Lucile, die nicht fassen kann, dass ihr Mann, der doch für das Rechte einsteht, dem Schafott zugeführt werden soll, klagt erst noch Gott und die Welt ob ihrer grenzenlosen Ungerechtigkeit an: »Ich fange an so was zu begreifen. Sterben – Sterben – Es darf ja alles leben, alles, die kleine Mücke da, – der Vogel. Warum denn er nicht? Der Strom des Lebens müsste stocken, wenn nur der eine Tropfen verschüttet würde. Die Erde müsste eine Wunde bekommen von dem Streich. Es regt sich alles, die Uhren gehen, die Glocken schlagen, die Leute laufen, das Wasser rinnt und so so alles weiter bis dahin – nein! es darf nicht geschehen nein – ich will mich auf den Boden setzen und schreien, dass erschrocken alles stehn bleibt, alles stockt, sich nichts mehr regt. … Das hilft nichts, da ist noch alles wie sonst, die Häuser, die Gasse, der Wind geht, die Wolken ziehen. – Wir müssen's wohl leiden.«[22]

Am Ende ruft sie, vom Leiden seelisch zerschmettert, zu Füssen der Guillotine, die ihren Mann enthauptete: »Es lebe der König!«.[23] Ihr Wahnsinn ist eins mit dem Fortbestehen der Herrschaft, die auch in diesem Fall die Frauen im besonderen Masse trifft. Julie begeht in ihrer Ohnmacht Selbstmord und überlässt sich den Mächten blinder Natur, die sich in der Bewusstlosigkeit der zweiten Natur reproduziert. An die Stelle von Befreiung und Versöhnung tritt, dieser Ausweglosigkeit gemäss, der Tod als Erlösung: »Die Sonne ist hinunter. Der Erde Züge waren so scharf in ihrem Licht, doch jetzt ist ihr Gesicht so still und ernst wie einer Sterbenden. […]. Stets bleicher und bleicher wird sie, wie eine Leiche treibt sie abwärts in der Flut des Äthers; will denn kein Arm sie bei den goldenen Locken fassen und dem Strom sie ziehen und sie begraben? Ich gehe leise. Ich küsse sie nicht, dass kein Hauch, kein Seufzer sie aus dem Schlummer wecke. Schlafe, schlafe.«[24]

Die Frauen der Revolution werden als mehrfach, »intersektional« beherrschte Opfer einer gesellschaftlichen Gewalt gezeigt, die in ihrer Härte und Blindheit einer Naturmacht gleicht. Der Anspruch der Vernunft auf Autonomie, der von der Aufklärung so eben noch emphatisch von Voltaire bis Kant vertreten wurde, zerschellt machtlos an der Naturwüchsigkeit der aufkommenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die von der Revolution entfesselt wurde – und den Willen aller Revolutionäre bricht. Robespierre folgte bekanntlich Danton, der das Scheitern revolutionärer Befreiung offen ausspricht: »Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst.«[25] Der von Büchner reflektierte Bann der Vorgeschichte, der die Frauen in einem ungleich härteren Masse trifft, bleibt ungebrochen.

Der metaphysische Erfahrungskern

Metaphysik, die sich gemeinhin mit den ewigen Fragen und Wahrheiten beschäftigt, hat selbst einen zeitlichen Index. Sie ist derart mit der Geschichte verwoben, dass ihr emphatischer Anspruch auf Wahrheit nur dann bestehen kann, wenn sie sich gegenüber jener nicht abdichtet, sondern die Erfahrung mit ihr begrifflich verarbeitet. Büchners Erfahrung ist die, dass Gott tot und mit ihm die Gewissheit auf Erlösung gestorben ist – sind beide doch im christlichen Kontext nicht voneinander zu trennen. In dieser Erfahrung gehen die metaphysische und die politisch-soziale Dimension ineinander über. Wo vielleicht noch die »Sehnsucht nach dem ganz Anderen« (Horkheimer) besteht – bei Danton in Form des absoluten Nichts, an das der Materialist allerdings nicht glauben kann[26] –, nicht aber mehr die begründete Aussicht auf die individuelle Wiederauferstehung und die Wiedergutmachung für vergangenes, begangenes und erlittenes Unrecht, da gewinnt jedes individuelle, ganz und gar irdisch-materielle Leben an unendlicher Bedeutung.

Das Leiden und Sterben der (gott-)verlassenen Individuen, am Ende ihr unabwendbarer Tod, werden jenseits jeglicher transzendenter Heilsgewissheit auf Erlösung so schwer genommen, wie sie sind: irreversible Katastrophen, die keine falsche Beschwichtigung ertragen. Daher auch der unbedingte Wille alle Herrschaftsverhältnisse, ihre Gewalt und Ausbeutung, aus der Welt zu schaffen – beschädigen oder vernichten diese doch das bisschen an Leben, das ein jeder überhaupt nur hat. Nicht weniger forciert diese Erfahrung aber auch die Verantwortung derjenigen, die diesen Kampf aufnehmen. Von hier rührt das politische Votum Büchners für das Individuum und wider Abstraktionen wie »die Revolution«, »die Geschichte« oder »die Gerechtigkeit«. Es sind die Hoffnungen und Träume des Einzelnen sowie ihre Beschädigungen, die ihn den allzu oft opferreichen und leidensvollen Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse aufnehmen lassen.

Es geht um nichts Geringeres als eine in den bisherigen »Revolutionen unterdrückte Revolution«[27], die das individuelle Leiden genauso in sich aufnimmt und erinnert wie den Tod: eine »letzte Erinnerung an alle Möglichkeiten, die nicht realisiert wurden, an alles, was gesagt werden konnte und nicht gesagt wurde, an jede Gebärde, jede Zärtlichkeit, die ausblieb.«[28] Marcuse hat sich dem im Raum stehenden Problem, die endlose Reihe von nicht mehr widerrufbaren Verbrechen, als der illusionsloseste, radikal-materialistische unter den kritischen Theoretikern in einem besonderen Masse angenommen. Eine letzte Spekulation auf einem verborgenen Gott oder auf Splitter des Messianischen, wie sie bei seinen Freunden Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Max Horkheimer zu finden sind, sind ihm fremd.

Für Marcuse nimmt der »Kampf gegen die Zeit« als ein zentrales »Moment im Kampf gegen die Herrschaft«[29] daher zugleich eine herausragende wie fragile Position in seinem Denken ein; eine Ambivalenz die in der Sache selbst liegt. Er plädiert für die »Lösung der befreienden Macht der Erinnerung«,[30] die dem Vergessen und Verdrängen entgegenarbeitet. In diesem Zusammenhang findet Marcuse zu Worten, die wie wenige andere den theoretischen wie praktischen Impetus radikaler materialistischer Herrschaftskritik pointieren: »Nicht die, die sterben, stellen die grosse Anklage gegen unsere Kultur dar, aber die, die sterben, ehe sie müssen und wollen, die, die in Todesqual und Schmerzen starben. Sie sind auch die Zeugen für die untilgbare Schuld der Menschheit. Ihr Tod erweckt das schmerzliche Bewusstsein, dass er unnötig war, dass es anders hätte sein können.«[31]

Bei aller Begeisterungsfähigkeit für praktische Systemkritik fokussierte Marcuse die durch keine noch so revolutionäre Politik aus der Welt zu schaffende Unversöhntheit des Lebens, Antagonismen, die tiefer reichen als jede Form der Vergesellschaftung. Wenn das »steinerne Herz der Unendlichkeit«[32] nicht zu erweichen ist, die Toten tot bleiben, dann hat der materialistische Freiheitsbegriff jenseits der Grenze der Erlösung die Abschaffung physischen Leidens sinnlicher Individuen zur finalen Aufgabe, die als unendlich zu klassifizieren ist. Selbst in einer versöhnten Gesellschaft würde der Herzschlag der Befreiung, die Revolte gegen die Gewalt des Todes,[33] nicht aufhören zu pulsieren: »Die Unvermeidlichkeit des Todes widerlegt nicht die Möglichkeit einer schliesslichen Befreiung.

Gleich den anderen Notwendigkeiten kann er vernünftig gestaltet werden – schmerzlos. Die Menschen können ohne Angst sterben, wenn sie wissen, dass das, was sie lieben, vor Elend und vergessen bewahrt ist. […]. Aber selbst der endliche Anbruch der Freiheit kann diejenigen nicht mehr erlösen, die unter Schmerzen gestorben sind. Die Erinnerung an sie und die aufgehäufte Schuld der Menschheit gegenüber ihren Opfern verdunkeln die Aussichten einer Kultur ohne Unterdrückung.«[34] Dies führt zurück auf Büchners metaphysische Reflexionen über die Grenzen der Befreiung, die immanent mit der Darstellung der politischen Aporien der Revolution verbunden sind.

Der bereits inhaftierte und dem Schafott geweihte Danton sinniert mit seinen Genossen über die Sinnlosigkeit und Brutalität der menschlichen Existenz, über die sie sich zu betrügen nicht bereit sind, was sich in ihrer politischen Haltung ausdrückt, die »die gliederlösende, böse Liebe«[35] anstelle des Tugendterrors entfachen will. Der christliche Gott ist tot. Die an ihn gehefteten Hoffnungen wirken den inhaftierten Revolutionären nur noch wie ein schlechter Witz auf Kosten der Betrogenen: »Sind wir Kinder, die in den glühenden Molochsarmen dieser Welt gebraten und mit Lichtstrahlen gekitzelt werden, damit die Götter sich über ihr Lachen freuen?«[36] Was am Ende angesichts des Scheiterns der Befreiung und des bevorstehenden gewaltsamen Todes allein bleibt, ist eine letzte Klage, die den Sinn der menschlichen Revolte gegen Gott, Tod und Herrschaft wie keine zweite ausdrückt: »Doch hätte ich anders sterben mögen, so ganz mühelos, so wie ein Stern fällt, wie ein Ton sich selbst aushaucht, sich mit den eignen Lippen totküsst, wie ein Lichtstrahl in klaren Fluten sich begräbt. – Wie schimmernde Tränen sind die Sterne durch die Nacht gesprengt, es muss ein grosser Jammer in dem Aug sein, von dem sie abträufelten.«[37]

Hendrik Wallat
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 53
www.phase-zwei.org

Georg Büchner: Dantons Tod. Reclam, Stuttgart 2002. 124 Seiten, ca. 11 SFr, ISBN 978-3-15-006060-5.

Fussnoten:

[1] Georg Büchner, Dantons Tod, Stuttgart 2002, 25.

[2] Ebd., 16.

[3] Ebd., 47-49.

[4] Zur Rolle der linken Sozialrevolutionäre in der Russischen Revolution: Lutz Häfner, Die Partei der linken Sozialrevolutionäre in der russischen Revolution 1917/18, Köln u.a. 1994.

[5] Daniel Guérin, Klassenkampf in Frankreich (Bourgeois et »bras nus« 1793-1795), Frankfurt a.M. 1979.

[6] Isaak Steinberg, Gewalt und Terror in der Revolution. Das Schicksal der Erniedrigten und Beleidigten in der russischen Revolution, Berlin 1974 (Reprint), 261.

[7] Ebd., 260.

[8] Ebd., 260f.

[9] Ebd., 262.

[10] Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalter, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1988, bes. 60ff.

[11] Büchner, Dantons Tod, 11.

[12] Ebd., 24.

[13] Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, bes. 76f. Ähnlich auch Adorno: »Das Unterdrückte, das den Umsturz will, ist nach den Normen des schönen Lebens in der hässlichen Gesellschaft derb, von Ressentiment verzerrt, trägt alle Male der Erniedrigung unter der Last der unfreien, zumal körperlichen Arbeit.« Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Ders., Gesammelte Schriften 7, Frankfurt a.M. 1997, 78. Vorweg genommen hat diese Kritik an der Arbeit und der Armut als Freiheit und Schönheit vernichtenden Zwang, Oscar Wilde: Der Sozialismus und die Seele des Menschen. Ein Essay, Zürich 1982, 10ff u. 32ff.

[14] Büchner, Dantons Tod, 69.

[15] Ebd., 7.

[16] Ebd., 78f.

[17] Ebd., 8.

[18] Alle Zitate in Reihenfolge aus: Georg Lukács, Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner. Zu seinem hundertsten Todestag am 19. Februar 1937, in der: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten. Werke Bd. 7, 270, 259, 259, 261, 262, 257.

[19] Sebastian Tränkle, Polizeisoldat des Himmels. Über revolutionäre Moral und die Negation des individuellen Glückanspruchs, in: Hendrik Wallat (Hg.), Gewalt und Moral. Eine Diskussion der Dialektik der Befreiung, Münster 2014.

[20] Ahlrich Meyer, Die Subsistenzfrage im bürgerlichen Revolutionszyklus 1789-1848, in: Die Logik der Revolten – Studien zur Sozialgeschichte 1789-1848, Berlin/Hamburg 1999, 171.

[21] Jacques Roux, Publiciste No 268, in: Freiheit wird die Welt erobern. Reden und Schriften, Leipzig 1985, 186.

[22] Büchner, Dantons Tod, 82f.

[23] Ebd., 84.

[24] Ebd., 80f.

[25] Ebd., 43.

[26] Vgl. ebd., 67.

[27] Herbert Marcuse, Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik, in: Ders., Schriften, Bd. 9, Springe 2004, 241.

[28] Ebd., 238f.

[29] Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, 17. Aufl. Frankfurt a.M. 1995, 230.

[30] Ebd., 229.

[31] Ebd., 232.

[32] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophisch Fragmente, in: Max Horkheimer Gesammelte Schriften, Bd. 5, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2003, 280.

[33] Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Essays, 27. Aufl. Hamburg 2009, 341. In Marcuses Kritik der Ideologie des Todes heisst es treffend: »Einvernehmen mit dem Tod ist Einvernehmen mit dem Herrn über den Tod: der Polis, dem Staat, der Natur oder Gott.« Herbert Marcuse, Die Ideologie des Todes, in: Nachgelassene Schriften Bd. 3. Philosophie und Psychoanalyse, Lüneburg 2002, 114. Das tiefe »Einverständnis« mit der Herrschaft ist dem »Todeskultus« wesenseigen: »Der Eifer für die Ewigkeit des Todes verlängert die Drohung mit ihm; politisch wirbt er für die Unvermeidlichkeit der Kriege.« Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 6, 518, 505, 518.

[34] Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, 233. Einem zentralen Problem jeder Idee der Abschaffung des Todes hat Marcuse allerdings kaum Beachtung geschenkt: Der »alte« fehlerhafte, gebrechliche Mensch steht dem neuen, makellosen Menschen potentiell im Weg. Anstelle jenem in seinem Leiden und seiner Beschränktheit beizustehen, kann er schnell nur als zu beseitigendes Manko wahrgenommen werden, womit die emanzipatorische Idee der Abschaffung des Todes sich in ihr Gegenteil verkehrt: in die Abschaffung des Menschen.

[35]Büchner, Dantons Tod, 8

[36] Ebd., 79.

[37] Ebd., 74.